Verdammt, schon wieder verschlafen. Es ist Mitte November, sieben Uhr früh. Aufstehen, die Gelenke schmerzen, es ist dunkel und kalt in der Wohnung. Nur schnell das Nötigste zusammensuchen: Geldtasche (leer), Hose (voll), FFP2-Maske (alt). Einen letzten Schluck aus der Leitung. Die Temperatur des Wassers ist dem Gefrierpunkt nahe, sie erinnert mich schmerzlich daran, dass dringend wieder ein Termin beim Zahnarzt fällig wird.

Ich trete vor die Türe. Schon von Weitem sehe ich hunderte Menschen am Bahnsteig der Station Purkersdorf Zentrum stehen und frieren. Es regnet und der Orkansturm, der jährlich und täglich von September bis April von Westen kommend rund um die Uhr unbarmherzig über das Wiental hinwegfegt, trägt kleine und stechende Regentropfen waagerecht wie Nadeln in die zugekniffenen Augen der Wartenden. Hunderte, überteuerte, beige- und neonfarbene Multifunktionsjacken drängen sich dicht an dicht auf dem mit Gratiszeitungen und leeren Bierdosen gepflasterten Bahnsteig aneinander. Das Rascheln der imprägnierten Textilen klingt wie das beharrliche Reiben einer Hornhautfeile an der spröden Ferse eines dehydrierten Marathonläufers. In den Gesichtern der Purkersdorfer Zug-PendlerInnen zeichnen sich dunkle Fratzen ab, man starrt entweder auf das eigene Smartphone oder auf die ÖBB-Zuganzeige. Beides erscheint mir sinnlos.

Es ist 07:36, der von St. Pölten kommende Regionalexpress sollte vor zwei Minuten planmäßig von Purkersdorf Zentrum abgefahren sein, am blauen Bildschirm ist nach wie vor keine Verspätung angekündigt. Als erfahrener Zugfahrer habe ich dennoch ein mulmiges Gefühl im Bauch. Kurz schweife ich ab und muss an den Hogwarts Express aus Harry Potter denken, den nur bestimmte Menschen sehen können. Vielleicht gib es einen solchen auch für ausgewählte Bewohner des Wiener Speckgürtels und täglich steigt ein kleiner, dicker Bub mit Brille vom „sehen!wutscher“ namens „Harald Pottner“ mit seiner Gore-Tex-Jacke in diesen ein und kommt pünktlich und glücklich von A nach B. Aber Harry Potter und die pünktliche Abfahrt des Regionalexpress bleiben nur eines, nämlich Fiktion. Und tatsächlich, die Kakophonie aus Smalltalk, Husten und genervten Selbstgesprächen am Bahnsteig wird aus den kleinen Lautsprechern durch die Stimme von Chris Lohner unterbrochen.

„Werte Fahrgäste, auf Grund einer technischen Störung am Gleiskörper fällt der Regionalexpress REX51 von St. Pölten nach Wien Westbahnhof heute aus. Bitte beachten sie die Informationen am Bahnsteig“.

Der „Blue Screen of Death“, wie der Infoscreen auch von Pendler-Veteranen genannt wird, zeigt nun diesen und alle anderen Züge Richtung Wien mit „Ausfall“ an. Ausfällig reagieren auch die hunderten, nassen, in synthetischen Membranen gekleidete PurkersdorferInnen, die nun wie vom Blitz getroffen wild durcheinanderlaufen, schimpfen, telefonieren und versuchen, eine alternative Verbindung in das weit entfernte Wien zu finden. Nur eine etwas ältere Frau mit Reisekoffer bleibt allein am Bahnsteig zurück. Sie weint. 

Ich versuche ebenfalls mehr Informationen über mein Smartphone einzuholen, stecke meine nassen und von der Kälte taub gewordenen Finger gleich wieder zurück in die Hosensäcke. Meine Idee, mit dem Purkersdorfer Stadttaxi wenigstens bis zur Stadtgrenze befördert zu werden, zerplatzt nach fünf Minuten in der Warteschleife. Das gute Stadttaxi: gratis und auch umsonst. Inzwischen kommen auch die ersten Verwirrten zurück von der Bushaltestelle. Die Buslinie 451, die in knackigen Intervallen von 40 Minuten bis zu 40 Stunden fahren sollte, fährt heute ebenso nicht. Warum, das weiß vermutlich nur der ehrenhafte Dr. Richard und seine Crew. Der Infoscreen am Bahnsteigt blinkt nun in allen möglichen Farben, Chris Lohner versucht bemüht, die wütenden Zugreisenden mit automatisch generierten Floskeln über die Lautsprecher zu besänftigen. Doch der Mob an aufgebrachten PendlerInnen bahnt sich schon seinen Weg über den Hauptplatz und löst sich dann langsam in alle vier Himmelsrichtungen auf.

Seis drum, ich beschließe, mich noch eine Stunde ins Bett zu legen und den Zugausfall einfach auszusitzen. Wir werden ja sehen, wer den längeren Atem hat. So wie ich mich ins noch warme Federbette gleiten lasse, höre ich von draußen das bekannte Geräusch eines einfahrenden Personenzugs. Es ist die Schnellbahn S50, die von Neulengbach kommend nun am leeren Bahnsteig Purkersdorf Zentrum stehenbleibt. Die Türen öffnen sich kurz, etwa zehn Menschen steigen aus, eine einzige Frau mit Reisekoffer und Tränen (es sind jetzt Tränen der Freude) steigt zu. Die Türen schließen sich wieder. Also doch noch ein Happy End, zumindest für einen Menschen. Bitte Zurücktreten! Zug fährt ab. 

Diese Geschichte ist eine von vielen, die irgendwann 2024 als Buchprojekt unter dem Arbeitstitel „Purkersdorfer Impressionen“ von Purkersdorf Online erscheinen könnten. Falls dir die Kurzgeschichte gefallen hat und du mehr davon lesen möchtest, würde ich mich über ein ehrliches Feedback in den Kommentaren oder auf kontakt@purkersdorf.online freuen

One thought on “Ein Schritt VOR, zwei zurück”

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